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5.Die Ehescheidung.. |
5.Divorce. |
93 | Jetzt, da Jesus vor den Jüngern offen von seiner messianischen Bestimmung gesprochen hat und da der Augenblick naht, wo ihn auch das ganze Volk als Messias bekennen sollte, gibt ihm das Urevangelium Gelegenheit, sich als den neuen Gesetzgeber, als den Vollender des Gesetzes zu beweisen.
Lukas hat diesen Abschnitt ausgelassen, — er hat sich damit begnügt, jener spätern Schöpfung, der Ausführung über das alte und neue Gesetz, die wir oben in ihre ursprüngliche Größe wieder eingesetzt haben, den Spruch über die Heiligkeit der Ehe zu entlehnen (C. 16, 18) — eS schien ihm genug, wenn auch in seiner Schrift wie im Urevangelium Jesus Einmal das Verbot der Ehescheidung auSfpricht. Matthäus bleibt dagegen seiner Gewohnheit treu: nachdem er mit jenen Antithesen des alten und neuen Gesetzes auch den Ausspruch gegen die Ehescheidung in seine Bergpredigt aufgenommen, theilt er nun das Original dieses Ausspruchs noch selber mit. |
Now that Jesus has openly spoken of his Messianic destiny before the disciples, and now that the moment is approaching when the whole people should also confess him as Messiah, the primal Gospel gives him the opportunity to prove himself as the new Lawgiver, as the perfecter of the Law.
Luke omitted this passage – he was content to borrow from that later creation, the exposition of the old and new law, which we have restored to its original grandeur above, the saying about the sanctity of marriage (C. 16, 18) – it seemed enough to him if in his writing, as in the Gospel, Jesus also speaks once about the prohibition of divorce. Matthew, on the other hand, remains faithful to his habit: after including the statement against divorce in his Sermon on the Mount along with the antitheses of the Old and New Law, he now shares the original of this statement himself. |
93/94 | Wie weit seine geistlose Abhängigkeit vom Urbericht geht, verräth wieder ein schriftstellerisches Wunder, welches er dadurch erzeugt, daß er im Mechanismus seines Abschreibens die Worte — aber nur die Hauptworte ängstlich ins Auge faßt, ohne zugleich ihre Verbindung und ihr gegenseitiges Verhältniß zu beachten. Nach seinem Bericht (C. 1S, 1) kommt nämlich jetzt Jesus „in das Gebiet von Judäa jenseits des Jordan” — in der wirklichen Welt eine reine Unmöglichkeit, da Judäa disseits deS Jordan lag — also eine wunderbare Reise, deren Unnatur sich daraus erklärt, daß Matthäus, als er dem Urbericht alle Worte dieses Satzes entnahm, die wichtige Bestimmung, daß Jesus „durch das Land” jenseits des Jordan nach Judäa kam, übersah und ausließ. | How far his mindless dependence on the original report goes is again revealed by a literary miracle which he produces by the fact that in the mechanism of his copying he anxiously focuses on the words – but only on the main words – without at the same time paying attention to their connection and their mutual relationship. According to his report (C. 1S, 1), Jesus comes “into the region of Judea beyond the Jordan” – in the real world a pure impossibility, since Judea lay beyond the Jordan – thus a miraculous journey, the unnaturalness of which is explained by the fact that Matthew, when he took all the words of this sentence from the original report, overlooked and omitted the important provision that Jesus came to Judea “through the land” beyond the Jordan. |
94 | Es ist ferner eine unpassende Einleitung zu einer Verhandlung, in welcher sich Jesus als der neue Gesetzgeber beweisen soll, wenn es heißt, daß die Pharisäer mit ihrer Frage über die Ehescheidung zu ihm traten, als ihm auf seiner Reise nach Jerusalem viele Haufen folgten und „er sie heilte.”
Daß Jesu viele Haufen folgten, ist eine Formel, der sich nur der Spätere nicht entziehen konnte, für dessen Anschauung Jesus und die Haufen immer und nothwendig verbunden sind — im Urbericht (Marc. 10,1) heißt es dagegen: „es kamen wieder die Haufen zu ihm zusammen” — wieder! zuletzt nämlich war Jesus incognito durch Galiläa gereist. Im Urbericht heißt es weiter: „und wie es seine Sitte war, lehrte er sie wieder” — wieder! Jetzt nämlich, da die letzte Entscheidung nahte, gab sich Jesus dem Volke wieder hin und zwar lehrt er, wie es sich ziemte, wenn die Pharisäer ohne Weiteres mit einer theoretischen Frage, mit einer Frage über das Gesetz zu ihm herantretm sollten. |
It is also an inappropriate introduction to a trial in which Jesus is supposed to prove himself as the new lawgiver, when it is said that the Pharisees came to him with their question about divorce when many crowds followed him on his journey to Jerusalem and “he healed them”.
That many crowds followed Jesus is a formula that only the later could not escape, for whose view Jesus and the crowds are always and necessarily connected – in the original report (Marc. 10,1), on the other hand, it says: “again the crowds came together to him” – again! for Jesus had last travelled incognito through Galilee. In the original report it says: “and as it was his custom, he taught them again” – again! Now, as the final decision was approaching, Jesus gave himself to the people again, teaching as was proper when the Pharisees approached him with a theoretical question, with a question about the law. |
94/95 | Die Frage selbst soll so gestellt seyn — (auch «ach dem Urbericht beabsichtigen nämlich die Pharisäer, mit ihr dem Herrn eine Versuchung zu bereiten) — daß jede der beiden möglichen Antworten ihre Gefahr hatte — wo bleibt aber ihr ge fährlicher Charakter, wenn die Pharisäer fragen, ob die Scheidung in jedem Falle erlaubt sey, wenn sie es also selbst voraussetz en, es wenigstens nicht für eine übertriebene Strenge halten, daß sie nur in bestimmten Fällen erlaubt seyn solle? | The question itself should be put in such a way – (even “after the original report the Pharisees intend to tempt the Lord with it) – that each of the two possible answers had its danger – but where is its dangerous character when the Pharisees ask whether divorce is permitted in every case, if they therefore presuppose it themselves, at least do not consider it an exaggerated strictness that it should only be permitted in certain cases? |
95 | Sagen wir es aber nur sogleich heraus: die Frage der Pharisäer, ob die Scheidung überhaupt erlaubt ist, soll nach der Meinung der Gegner, d. h. nach der Ansicht deS UrberichtS nur die Eine Wahl lassen, daß Jesus entweder offen mit dem geoffenbarten Gesetze brach und sich somit als einen Gegner der Offenbarung hinstellte oder wenn er die Kollision scheute, es bekannte, daß er Nichts Neues bringe und keine höhere gesetzgebende Vollmacht besitze.
(D. h. die Pharisäer, die einfach nur die Wahrheit deS mosaischen Gesetzes voraussetzen müßten, bilden die Kollision, übersehen sie vollständig, ahnden, ja kennen die Gefahr, in der sie selbst vielmehr umkommen sollen — d. h. die Frage ist erst aus dem spätern Bewußtseyn der Gemeinde herauSgebil-det, für welches die Kollision mit dem Gesetze durch den Gedanken der Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe längst gelöst war.) Wie schlägt nun Jesus die Versucher? Wie beseitigt er die Gefahr, die jene Wahl ihm bringen mußte? Damit, daß er die Wahl unnöthig macht. Vom Gesetz Mose’s aus, auf dessen Boden er die Gegner mit sich zunächst zusammenbringt, geht er nicht, wie sie es haben wollten, zu sich fort, sondern in den Anfang des göttlichen Beliebens — in den Anfang aller Offenbarung zurück. |
But let us say it at once: the question of the Pharisees, whether divorce is permitted at all, should, according to the opinion of the opponents, i.e. according to the opinion of the original report, leave only one choice, that Jesus either openly broke with the revealed law and thus presented himself as an opponent of the revelation, or if he shunned the conflict, confessed that he brought nothing new and possessed no higher legislative authority.
(I.e. the Pharisees, who would simply have to presuppose the truth of the Mosaic law, form the conflict, overlook it completely, foresee, even know the danger in which they themselves are to perish – i.e. the question is only formed from the later consciousness of the congregation, for which the conflict with the law had long since been solved by the idea of the sanctity and indissolubility of marriage). How does Jesus beat the tempters? How does he remove the danger which that choice had to bring him? By making the choice unnecessary. From the law of Moses, on the ground of which he first brings the opponents together with himself, he does not go away to himself, as they would have it, but back to the beginning of divine will – to the beginning of all revelation. |
95/96 | Er stellt den Gegnern sogleich die Gegenfrage, was ihnen Moses geboten habe — sie berufen sich auf die GesetzeSstelle, wonach Moses die Ausstellung eines ScheidebriefS gebietet, also die Scheidung dem Manne steistrllt, worauf Jesus bemerkt, daß jenes Gesetz nur in der HerzenShärtigkeit deS Volks seinen Grund habe — von Anfang an sey eS aber anders gewesen — die Schöpfung führe auf ein anderes Verhältniß des Mannes und der Frau — das ewige, uransangliche Gesetz laute anders und es müsse wieder herrschen, seine Ueberlegenheit über das spätere mosaische Gebot sey unzweifelhaft: „was Gott verbunden hat, darf der Mensch nicht scheiden” (Marc. 10, 2—9). | He immediately asks the opponents what Moses had commanded them to do – they refer to the passage in the law according to which Moses commands the issuing of a letter of divorce, i.e. that divorce be given to the man, whereupon Jesus remarks, that this law had its reason only in the hardness of the people’s hearts – but from the beginning it had been different – creation led to a different relationship between man and woman – the eternal, original law was different and it must prevail again, its superiority over the later Mosaic commandment was undoubted: “what God has joined together, man must not separate” (Marc. 10, 2-9). |
96 | Damit ist Alles gesagt, was zu sagen war, die Gegner sind geschlagen, das Ewige hat gesiegt und erst nachher, zu Hause, als die Jünger über die Angelegenheit weiter fragten, stellt Jesus das Positive Gebot auf, daß die Scheidung schlechterdings nicht zulässig sey (Marc. 10, 10—12).
Matthäus hat sich also versehen, wenn er die Pharisäer mit ihrer Frage voraussetzen läßt, daß die Scheidung in einigen Fällen nicht erlaubt sey — er hat sich versehen, wenn er die Argumentation Jesu aus der Schöpfung und dem uranfänglichen Willen des Schöpfers auf die Frage der Gegner sogleich folgen läßt, erst nach dieser Lösung durch die Frage der Pharisäer, warum denn Moses die Scheidung gestattet habe, das Gespräch auf das Gesetz bringt und wenn dann Jesus die HerzenShärtigkeit des Volks als den Grund dieses Gesetzes bezeichnet. Sobald das Ewige zur Sprache gebracht ist, muß die Angelegenheit zu Ende und entschieden seyn; wenn Jesus nach dem Wort über den wahren Grund des mosaischen Gesetzes noch Hinz «fügt: „von Anfang an war eS nicht so”, so ist diese Versicherung selbst ohnmächtig und klagt sie zugleich den früheren Beweis der Kraftlosigkeit an. Sie wäre un nöthig gewesen, wenn der Beweis aus der Schöpfungsgeschichte Kraft gehabt hätte. |
With this, everything that needed to be said was said, the opponents were defeated, the eternal had won and only afterwards, at home, when the disciples continued to ask about the matter, did Jesus establish the positive commandment that divorce was absolutely not permissible (Mark 10, 10-12).
Matthew was wrong when he let the Pharisees assume with their question that divorce was not permitted in some cases – he was wrong when he let Jesus’ argumentation from creation and the original will of the Creator immediately follow the question of the opponents, and only after this solution by the question of the Pharisees, why Moses had permitted divorce, did he bring the conversation to the law, and when Jesus then described the hardness of heart of the people as the reason for this law. As soon as the eternal is brought up, the matter must be finished and decided; when Jesus, after the word about the true reason of the Mosaic law, adds: “from the beginning it was not so,” this assurance is itself impotent, and at the same time it accuses the former proof of impotence. It would not have been necessary if the proof from the history of creation had had power. |
96/97 | Das Interesse des Abschnitts hat Matthäus endlich voll ständig zerstört, wenn er Jesum (C. 19, 9) das ewige, uransangliche Gesetz durch eine Äusnahme beschränken und im Fall der Hurerei die Scheidung von der Frau gestatten läßt. Auf diese Clausel hatte er es schon abgesehen, als er der Frage der Gegner ihre schielende Haltung gab. | Matthew finally destroyed the interest of the passage when he let Jesus (ch. 19, 9) limit the eternal, original law by an exception and allow divorce from the woman in the case of fornication. He was already aiming at this clause when he gave the question of the opponents their cross examination. |
97 | Wie es im Urbericht geschieht, läßt er danach der Abfertigung der Gegner gleichfalls ein Zwiegespräch zwischen den Jüngern und ihrem Herrn folgen — die positive Fassung der Lösung, die der Urbericht in diesem Zwiegespräch gibt, hat er nämlich der Antwort Jesu, dir den Pharisäern bestimmt war, angefugt, um jetzt das Lob der Askese und der Entsagung auf die Ehe anzubringen. Er hat es aber sehr wenig verstanden, diesen Preis der Gnadengabe der Ehelosigkeit *) einzuleitrn. Die einleitende Frage der Jünger und die Antwort Jesu stehen mit einander in tödtlichem Widerspruch: — während die Jünger über das neue Ehegesetz Nichts Besseres zu bemerken wissen, als daß iS unter diesen Umständen, wenn die Ehe eine so schwierige Pflichtest, besser sey, gar nicht zu heirathen, spricht Jesus in seiner Antwort von den Eunuchen, die um des Himmelreichs willen — also nicht um dem schwierigen Verhältniß der Ehe zu entgehen— Eunuchen geworden sind — d. h. seine Antwort weiß von der thörichten Frage der Jünger Nichts — mit andern Worten: Matthäus hat den Spruch von den Eunuchen einer seiner Quellenschriften entnommen und ungehörig eingeführt.
Es war schon ein Versehen von seiner Seite, daß er den Augenblick darauf, wo von der hohen Bedeutung der Ehe die Rede war, den Preis der Ehelosigkeit folgen läßt. |
As it happens in the original report, he then follows up the rejection of the opponents with a dialogue between the disciples and their Lord – the positive version of the solution that the original report gives in this dialogue is added to Jesus’ answer, which was intended for the Pharisees, in order to now praise asceticism and renunciation of marriage. But he knew very little how to introduce this praise of the gift of grace of celibacy *). The disciples’ introductory question and Jesus’ answer are in fatal contradiction with each other: – while the disciples know nothing better to say about the new marriage law than that under these circumstances, when marriage is such a difficult duty, it would be better not to marry at all, Jesus speaks in his answer of the eunuchs who have become eunuchs for the sake of the kingdom of heaven – that is, not in order to escape the difficult relationship of marriage. In other words, Matthew has taken the saying about the eunuchs from one of his source writings and introduced it improperly.
It was an oversight on his part that the moment he spoke of the great importance of marriage, he followed it up with the praise of celibacy. |
97* | *) den auch Justinus Apol. II, 61. in seinen apostolischen Denkwürdigkeiten las. | *) which also Justin Apol. II, 61. in his Apostolic Memoirs. |
98 | Im Urevangelium hat die negative Richtung des neuen Princips gegen die Familie auch ihren Ausdruck erhalten — aber in ihrer ersten, ursprünglichen Form als Kampf und revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden sittlichen Verhältnisse — (Marc. 10, 29: „wer um meinetwillen Vater oder Mutter, Weib oder Kind verläßt”) — Matthäus hat da-spätere asketische Dogma in seine Compilation ausgenommen und dabei nicht bedacht, daß er dem Urevangelium nachher auch jene ursprüngliche revolutionäre Auflehnung gegen die bestehenden Verhältnisse entnimmt (C. 19, 29). | The negative direction of the new principle against the family was also expressed in the Gospel – but in its first, original form as a struggle and revolutionary movement against the existing moral conditions – (Mark 10, 29: “whoever forsakes father or mother, wife or child, for my sake”) – Matthew excluded this later ascetic dogma in his compilation and did not take into consideration that he later also took from the Gospel that original revolutionary rebellion against the existing conditions (ch. 19, 29). |
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Neil Godfrey
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